Pogrom von Sivas
Im Sommer des Jahres 1993 treffen sich viele Künstler zu einem alevitischen Kulturfestival zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal. Am 02. Juli versammelte sich eine aufgebrachte Menschenmasse (über 20.000) nach dem Freitagsgebet vor dem Madımak-Hotel, in dem Aziz Nesin, aber auch alevitische Musiker, Schriftsteller, Dichter und Verleger aufhielten. Es wurden Brandsätze gegen das Hotel geworfen, da das Hotel aus Holz gebaut war, breitete sich das Feuer schnell aus. Zudem konnten die Bewohner des Hotels nichts in Freie wegen der wütenden Menschenmenge draußen vor dem Hotel. Obwohl Polizei und Feuerwehr frühzeitig alarmiert waren, griffen sie erst nach rund acht Stunden ein. Es verbrannten 35 Menschen!
Das Staatssicherheitsgericht in Ankara kam zu dem Urteil, dass die Menge die Feuerwehr bei den Rettungsarbeiten behinderte. Zudem belegen Zeugenaussagen sowie Videoaufnahmen, wie vereinzelte Polizisten der Menge halfen und eine anrückende Militäreinheit sich wieder zurückzog. Die Aleviten nennen diesen Anschlag das „Sivas-Massaker“, wobei aus ihrer Sicht der Brandanschlag ihnen gegolten hatte, und fühlen sich seither vom Staat im Stich gelassen. Das Ereignis spielte eine wichtige Rolle bei ihrer Bewusstseinsbildung.
Die Sunniten hingegen bestreiten jeglichen Vorwurf, für den Brandanschlag verantwortlich zu sein, und verlangen die Auffindung der wahren Täter. Sie befürworten eine Revision der Untersuchung des Anschlags und behaupten, dass Saboteure sich in die Menschenmenge gemischt und die Brandsätze gegen das Hotel geworfen haben. Der ganze Brandanschlag wurde live im TV übertragen.
Bis Ende 2010 führten Sunniten im Gebäude des ehemaligen Madımak-Hotels ein Restaurant mit Fleischgerichten. Das führte bei den Aleviten zu Empörung und Widerspruch, da sie dort ein Friedens-Museum sehen wollen. Anfang 2011 wurde das Madımak-Hotel vom türkischen Staat gekauft und geräumt. Danach begannen die Bauarbeiten für ein Kulturzentrum. Darin befindet sich eine Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags, außerdem befindet sich eine Bücherei im neuen Madımak. Alevitische Vereine bestehen darauf, dass das Kulturzentrum in „Friedens-Museum“ umbenannt wird. Am 11. November 2007 wurden die Gräber der Sivas-Opfer in Ankara, Karsiyaka beschädigt. Die Gedenkmauer wurde dabei komplett zerstört. Kurze Zeit später kam es erneut zu einer Beschädigung der Sivas-Gedenkstätte durch unbekannte Täter.
Trotz des gereizten Klimas zwischen Sunniten und Aleviten in der Türkei aufgrund des Brandanschlags in Sivas führten die Ereignisse auch zur Annäherung beider Gruppen und zur gemeinsamen Solidarität, solche tragischen Ereignisse in Zukunft abzuwenden. Jährlich findet am 2. Juli eine Gedenkfeier für die 35 Opfer des Brandanschlags von Sivas statt, an der Vertreter beider Gruppen teilnehmen. Die türkische Regierung jedoch verwendet nie den Begriff „Massaker“, sondern „trauriger Vorfall“. Unter anderem behaupten einige Kritiker, dass die alljährliche Gedenkfeier eher die Hassgefühle der Aleviten auffrische, als diese abzubauen. Untermauert wird dies mit der Behauptung, dass der Anschlag von den Betroffenen polemisiert werde.
Als Alevitische Gemeinde Deutschland gedenken wir dieser grauenvollen Tat und der vielen Opfer. Unsere Gedanken sind auch bei den Hinterbliebenen, die bis heute vergebens auf Gerechtigkeit und Anerkennung ihres Leids hoffen. Die Strafverfahren gegen die Täter und Drahtzieher hinter dem Massaker zogen sich erst über Jahrzehnte hin, dann wurde im März 2012 – am 27. Verhandlungstag des seit 19 Jahren andauernden Verfahrens – das Verfahren gegen fünf Flüchtlinge (und zwei Tote) wegen Verjährung eingestellt. Gegen drei weitere Flüchtlinge läuft das Verfahren noch. Obwohl in dieser Zeit bereits zahlreiche Personen wegen schwerer Brandstiftung, Massenmord und dem Versuch des Umsturzes des Staatssystems rechtskräftig verurteilt wurden, gelang einigen von ihnen noch in den 1990er Jahren die Flucht, u.a. nach Deutschland. Dort leben sie bis heute unbehelligt, teils als Illegale, teils als Familiennachzügler oder anerkannte Asylbewerber. Einem Täter wurde sogar die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Somit betrifft das Sivas-Ereignis auch Deutschland. Während die Hinterbliebenen der Opfer zum Teil Tag für Tag mit ihrer heutigen Armut zu kämpfen haben, weil ihnen 1993 der Ernährer ihrer Familie genommen wurde, leben einige der Täter mittlerweile gut situiert im europäischen Exil.
Als Alevitische Gemeinde Deutschland wenden wir uns gegen das Vergessen und gegen die Relativierung und Verharmlosung von (staatlichen) Gewaltverbrechen.
Wir fordern daher die offizielle Anerkennung der Leiden der Opfer so vieler Pogrome und Ausschreitungen gegen Aleviten in der Türkei und die konsequente Verfolgung und Verurteilung der Täter. In Gedenken an die vielen Toten vom 2. Juli 1993 sollte das Madımak Hotel in Sivas in ein Museum und eine Gedenkstätte umgewandelt werden.