Die Alevitische Lehre

Die Aleviten glauben an Gott (Hak/Allah) und an das Wort Gottes (Hak kelami/Gercek). Die Bezeichnung "Wort Gottes" wird dabei in einer viel umfassenderen Bedeutung verwendet als im allgemeinen Sprachgebrauch. Es beschränkt sich nicht nur auf "Heilige Texte", sondern ist wie die "Heilige Kraft" allgegenwärtig und besonders in allem Lebenden sowie in der menschlichen Seele vorhanden. In alevitischem Verständnis umfasst diese Bezeichnung alles, was im Laufe der Zeit an Wissen und Erkenntnis von Menschen erlangt oder angesammelt wurde. Neugier, Entdeckungsfreude, der Drang zur Erforschung und Entdeckung sowie das Sammeln von Wissen in allen Bereichen werden zur "Heiligen Kraft" gezählt. Dieses unendliche Meer von Erkenntnis und Wissen ist nicht begrenzt und ebenso unendlich wie Gott und das "Wort Gottes", das der menschliche Verstand nicht vollständig begreifen kann.

 

Auch die "Heiligen Bücher" werden als ein Teil dieser Unendlichkeit betrachtet, der dem menschlichen Geist von Gott zugänglich gemacht wurde, aber immer noch unerschöpfliche Tiefen des Verstehens bietet. Basierend auf dieser Überzeugung akzeptieren Aleviten alle heiligen Bücher und ehren sie mit dem Ausspruch: "Alle vier Bücher – Psalmen, Thora, Bibel und Koran – sind wahr / sind Gotteswort." Unter den Aleviten gibt es die Vorstellung eines ursprünglichen "Urgroßbuches" (kitab-i kebir) bei Gott, das sämtliches Wissen und Erkenntnis umfasst. Die bekannten heiligen Texte des Menschen sind nur ein Teil dieses Wissens, sie sind gewissermaßen Fragmente dieses "Großen Buches". Die Vorstellung, dass ein heiliges Buch wie der Koran das gesamte Wort Gottes beinhaltet, steht im Widerspruch zur Auffassung, dass Gott unendlich ist und sein Wort daher nicht in einem begrenzten Buch eingeschlossen sein kann.

 

Aus diesem Grund glauben Aleviten, dass bisher nur ein Teil des Wortes Gottes empfangen oder offenbart wurde. Sie befürworten wissenschaftliche Aktivitäten, da sie glauben, dass wissenschaftliche Arbeit – sei es im Bereich der Naturwissenschaften oder Geisteswissenschaften – dazu beitragen kann, das Geheimnis Gottes zu enthüllen. Sie wünschen sich, dass wissenschaftliche Forschung und ihre Ergebnisse dem Wohl der Menschheit und der Natur dienen. Dabei stellt die Ambivalenz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und daraus resultierenden technischen Entwicklungen oft eine Herausforderung dar, der sich auch die alevitische Theologie stellen muss.


Quelle: Ismail Kaplan, "Das Alevitentum - Eine Lebens- und Religionsgemeinschaft in Deutschland", Jahr 2004.